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  • AutorenbildSteffen Engelbrecht

#10 Gespräche mit Fremden

Aktualisiert: 17. Mai 2023

In der Nacht vom 18. Auf den 19. Dezember 2022 wurden Teile von Deutschland, darunter auch Kassel von einer dünnen, aber spiegelglatten Eisschicht überzogen. Um Blechschäden zu vermeiden, machte ich mich an diesem Tag schlitternd zu Fuß auf den Weg; so „schlimm“ konnte es ja nicht sein. Nach drei Metern wurde ich eines Besseren belehrt und balancierte ab dort an möglichst vorsichtig über die vereisten Bürgersteige. Obwohl kaum Menschen auf der Straße waren, tauschte man mit denjenigen, die man traf zumeist einen vielsagenden Blick aus: „Ist doch schlimmer als wir dachten.“. Teilweise kam man kurz ins Gespräch: „Wie weit haben Sie es noch?“, „Besser auf dem Grünstreifen laufen…“ oder auch „Morgen wird es besser.“. Verschont von größeren Ausrutschern, gelangte ich schließlich in die Praxis. Auch der Small-Talk zur Sitzungseröffnung drehte sich heute um die besondere Wetterlage und trotz der Unwegsamkeit, die das Eis mit sich brachte, schien die Stimmung an diesem Tag leicht beschwingt.



Im Oktober 2022 veröffentlichte die BBC einen Online-Artikel, der sich mit dem Phänomen „Stranger Danger“ (ungefähr: Fremder Gefahr) auseinandersetzte. Der Autor Joe Keohane befasste sich mit dem auch in Deutschland verbreiteten Glaube, dass fremde Menschen ein potenziell höheres Gefahrenpotenzial mit sich bringen. Der Fall des fremden Mannes, der das Kind mit Süßigkeiten in sein Auto lockt, existiert zwar, aber macht statistisch nur einen ganz kleinen Teil (ca. 1%) an Fällen von vermissten Kindern aus. Die Wirkung dieser Erzählung, die auch medial verstärkt wird, mag jedoch eine ganze Generation zu übermäßiger Vorsicht und Abneigung gegenüber Fremden geprägt haben.


Soziologen und Psychologen beschäftigten sich mit den Auswirkungen, die Interaktionen mit Fremden auf uns haben. So fand man zum Beispiel, dass ein Small-Talk (in Kassel: Schnuddeln) mit der Bedienung im Café, die durchschnittliche Stimmung und das Erleben von Zugehörigkeit signifikant steigern konnten. Gleiches zeigte sich für ein kurzes Gespräch im öffentlichen Nahverkehr. Obwohl vorab häufig Angst vor Ablehnung oder negativer Bewertung berichtet wurde, erzählten Personen, die ein Gespräch mit Fremden in der Straßenbahn suchten, dass sie ihre Fahrt angenehmer wahrnehmen und die Konversation meist auch länger andauerten, als sie vermutet hatten.


Diese Art Studien wurden wiederholt durchgeführt und führten zu wiederkehrenden Ergebnissen: Personen, die mit Fremden ins Gespräch kamen, erlebten sich fröhlicher, weniger einsam, optimistischer, empathischer, zugehöriger und sogar sicherer.

Dennoch hält uns die Angst vor der Verletzung sozialer Normen häufig zurück mit anderen in ein Gespräch einzusteigen und das Smartphone wirkt fasst wie ein Schild, dass uns Fremde vom Hals hält oder womit andere sich ganz bewusst abschirmen. Weil die oben beschriebenen kurz, oberflächlichen, aber freundlichen, zugewandten Gespräche einen so positiven Effekt haben können, ist es fatal, wenn Sie in einer Zeit wegfallen, in der sich viele Menschen einsam, pessimistisch oder sogar ausgeschlossen erleben. Das Gespräch mit Fremden birgt Potenzial für die stückweise Korrektur von negativen Grundannahmen über mich und die Welt um mich herum. Ein Leben anhand der Botschaften aus sozialen Medien und Nachrichten verstärkt hingegen Vorurteile gegenüber Fremden und überbetont Gefahren, wodurch auch sozialer Zusammenhalt langsam erodiert.


Der Autor gibt auch einen Tipp für die Gesprächseröffnung mit: Offene Fragen geben der anderen Person Raum zuerst zu sprechen und Ihnen die Möglichkeit Gemeinsamkeiten aufzugreifen. Deswegen sprechen wir auch so gerne über das Wetter.

Nach meiner Schlitterpartie an die Arbeit kann ich dies nur bestätigen und vermutete, dass sich wohl diese Art von „Katastrophen Kollektivismus“, der zu den Gesprächen geführt hatte, positiv auf meine Stimmung niedergeschlagen haben musste. Auch Kinderschutzverbände halten die „Stranger Danger“-Kommunikation mittlerweile für überholt, was ein guter Start ist, um wieder vermehrt mit Fremden ins Gespräch zu kommen.




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