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  • AutorenbildSteffen Engelbrecht

#6 Zu viel des Guten

Aktualisiert: 23. Jan. 2022


Balance, Mittelmaß, Equilibrium, Homöostase, Gleichgewicht, Ausgewogenheit – alle Begriffe erfassen das mehr oder weniger gleiche Konzept: gewisse Zustände halten sich die Waage oder sind mehr oder weniger ausgeglichen. Unser Körper verfolgt auf vielen Ebenen das gleiche Ziel. Dies offenbart sich unter anderem in der Regulation des Blutdrucks, in der Farbwahrnehmung sowie mit Blick auf den Blutzuckerspiegel oder unseren Schlaf.


Die Opponent-Process Theory (Opponententheorie, etwa: Gegenprozess-Theorie) besagt, dass auch unser psychischer Organismus auf jede Veränderung des Gleichgewichts, eine Gegenreaktion einleitet. Diese Theorie von Richard Solomon zeigte sich besonders hilfreich in der Erklärung von Suchtverhalten. Nach dem Hoch, das mit extremem Wohlbefinden bis hin zur Ekstase einhergeht, folgt ein Tief, in dem man sich schlapp, schlecht, miserabel fühlt. Um diese Folge, den Entzug loszuwerden und um sich wieder gut zu fühlen, greifen Menschen schließlich zu dem, was zuvor das Hoch ausgelöst hat. Es folgt der Gegenprozess und ein Teufelskreislauf kommt in Gang.


Ein körpereigenes Teilchen, dem wir unsere Hochs maßgeblich zu verdanken haben, heißt Dopamin. Immer wenn wir etwas tun, was wir als belohnend erleben, wird Dopamin ausgeschüttet. Bei leckerem Essen, beim Lesen eines guten Buches, beim Sex, wenn wir einen Like auf unseren neuesten post in den Sozialen Medien erhalten oder eben beim Konsum von Drogen. Dieses Wohlbefinden steuert unser Verhalten. Wir möchten gerne mehr von dem, was sich „gut anfühlt“. Weil unser Körper jedoch den Gleichgewichtszustand herstellen möchte, folgt auch immer die Gegenreaktion, bis hin zu Veränderungen in unserem Gehirn, um der Flut an Dopamin Einhalt zu gebieten (Receptor Down Regulation).



Anna Lembke ist Psychiaterin an der Standford University und arbeitet seit Jahren mit Abhängigkeitserkrankten. In ihrem neuesten Buch Dopamine Nation behandelt sie Ursprung, Folgen und Umgangsmöglichkeiten von Suchtverhalten. Dabei spannt sie die Linse weiter auf und erörtert, wie wir Menschen der westlichen Welt Opfer/Süchtige unseres Überflusses werden. Ständige likes, ständig neuer content (über den Inhalt lässt sich streiten), ständiger Pornokonsum, letztlich ständige Verfügbarkeit von Angenehmem, schwächt uns im Umgang mit dem Unangenehmen, dem Leid, welches doch zum Leben dazu gehört und nicht vermeidbar ist. Sie beleuchtet mit einem eingängigen Modell, was sich an die Opponent-Process Theory anlehnt und mittels eindrücklichen Fallbeispielen, wie sich unsere ‚schlechten‘, hartnäckigen Angewohnheiten sowie pathologischen Süchte entwickeln. Sie erklärt, warum wir unsere Augen nicht mehr von unseren Bildschirmen abwenden können, häufiger Cannabis rauchen, als wir möchten oder Glücksspiele spielen und was dabei in unserem Gehirn passiert. Zum Abschluss weist sie Wege aus der Sucht, in die Ausgeglichenheit von ‚Spaß und Schmerz‘ auf und beschreibt dabei auch verhaltenstherapeutische Herangehensweisen. Dopamine Nation erscheint im Juni 2022 auch auf Deutsch, ist sowohl für Laien ein guter Einstieg in das Thema, als auch für Therapeuten eine wertvolle Ergänzung und eröffnet mit einem Zitat von Levon Helm:

Feeling good, feeling good, all the money in the world spent on feeling good.

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